Selmer Alltagsspuren: Keinnetztage

Selmer Alltagsspuren: Keinnetztage

Kennt man so ja gar nicht. Ohne Internet. Ich schaue aus dem Fenster. Ich sehe auf die Straße. Wenn jetzt in Kasachstan oder Kirgisistan eine Atombombe explodieren würde, würde ich davon nichts erfahre, denke ich. Selbst wenn jetzt in Hamburg eine Atombombe explodieren würde, bekäme ich das nicht mit. Alles, was an relevanter Information noch zu mir durchdringt, ist was direkt draußen vor meinem Fenster passiert. Wenn ein Trecker gegen das Straßenschild führe. Oder wenn dort jemand ein Schild hochhielte, mit der Aufschrift „Für unsere Freiheit! Gegen Atombomben in Hamburg!“

Aber das würde die Person sicher vor dem Rathaus hochhalten. Weshalb sollte sie das genau vor meinem Fenster tun? Bloß um mich am Weltgeschehen teilhaben zu lassen ganz sicher nicht. Aber genau das Weltgeschehen bekomme ich gerade nicht mit, denn ich habe ja kein Internet.

Ich muss vielleicht ergänzen, dass ich auch keinen Fernseher und kein Radio in meiner Wohnung habe. Nichts klassisches, nichts analoges. Dabei soll man das doch, für den Notfall. Radio mit Batterie, falls nämlich doch mal irgendwo eine Atombombe explodiert und das Internet ausfällt und der Strom noch dazu. So als Minimalpräparation für alle Fälle.

Der Prozess mit dem Internetverlust war schleichend. Er kündigte sich durch ein schleichendes Abschwächen der Internetverbindung an. Der gestreamte Krimi am Sonntagabend stockt hin und wieder. Reload, Stelle suchen, wo ich gerade war. Vier bis fünf Mal. Mein Internet kommt aus einer Home-Box mit SIM-Karte. Festnetz habe ich nämlich keins, die Box war damals das schnellste und unkomplizierteste, als ich einzog. Der Nachteil: ich bin abhängig von den Funksignalen, die mein Mobilfunk-Anbieter liefert. Liefert er mal nicht, bin ich wie im hintersten Tal der kanadischen Berge abgeschnitten von der Welt.

Nächster Tag. Eigentlich ein Arbeitstag  im Homeoffice. Internet komplett weg. Ich nehme mein Handy, das hat Signalstärke E. Überlege kurz, ob ich mich damit ins Firmennetz einwählen soll, um meinen Kollegen zu signalisieren: “Huhu, ich bin da! Ich bin aktiv und arbeite im Homeoffice!”

Nein, tu ich nicht. Ich schicke aber eine Nachricht in die Firmenchatgruppe und mache mir einen Tee. Schöne große Tasse. Und warte, was sich tut. Es tut sich nichts.

“Was von alleine kommt, geht auch von alleine wieder”, sagte meine Oma immer und ersparte sich auf die Art viel langweilige Wartezeit beim Arzt. Die Gala hatte sie auch zu Hause. Ich warte. Noch habe ich genug Tee. Doch das Internet will von alleine nicht zurückkommen.

Hilfe, das Ende des Informationszeitalters ist da!

Ich beginne, das Ende des Informationszeitalters zu genießen. Keine Tickernachrichten, die aufpoppen, die mir sagen, „der Kirgisische Präsident liefert ab sofort kein Erdgas mehr in die Türkei, weil Erdogan gesagt hat, der kann mich mal!“ Kein „Rummenigge fordert in jedem Bundesligaspiel automatisch drei Punkte für Bayern München, weil sie als einzige ja sowieso immer gewännen, das zeige, wie toll sie sind und wenn sie sich in der Liga schonen würden und die Punkte trotzdem bekämen, könnten sie die Championsleague gewinnen, davon würden alle profitieren .“ Kein „Irgendein Landkreis in Thüringen führt als Corona-Massnahme ein, dass alle Menschen mit geradem Geburtstag nur an ungeraden Tagen einkaufen gehen dürfen und …“

Ja, und was? Es ist mir egal! Alles, was nicht direkt vor meinem Fenster passiert ist mir ab jetzt egal! Ich habe nämlich Tee. He, bist du ein Vogel? Schön, dein Gesang! Oh, Sonne! Wie warm mag es wohl sein? Fenster auf, Hand rausgestreckt, hm, höchstens 3 Grad, Fenster schnell wieder zu! Nur, die Arbeit ruft. Aber in die Firma zu fahren lohnt sich jetzt auch nicht mehr.

Doch ich beruhige mich. Ich muss nicht arbeiten, weil ich ja nicht arbeiten kann. Ich könnte ja einen schönen Text über meine internetlose Zeit schreiben. Dafür brauche ich theoretisch das Internet nicht. Genau genommen brauche ich dafür sogar gerade sein Fehlen. Ich schreibe also los und bin beim zweiten Satz angekommen, als ich überlege, ob Kirgisien offiziell Kigisien heißt. Im Internet recherchieren kann ich es gerade nicht. Höre mit dem Schreiben fürs erste wieder auf.

Fast so, wie krank

Die Situation fühlt sich ein wenig so an, wie Kranksein, nur besser. Denn krank bin ich ja nicht. Kein Schnupfen, keine Kopfschmerzen. Mir fehlt nur die Schnittstelle zur Welt. Ein schöner Vormittag und ich könnte sogar Netflix schauen. Ach ne, kann ich ja gerade nicht. Also die neue Folge von meinem Lieblingspodcast? Ach Mist, auch nicht. Es fühlt sich doch eher nach Kranksein an, nur schlechter! Ich mache neuen Tee. Noch kein Internet. Morgen also kein Home-Office.

“Wenn Sie ein technischen Problem haben, drücken Sie bitte die 2 …”

Es folgten drei Tage mit häufigen Gesprächen mit der Support-Hotline meines Mobilfunkanbieters. Zwei Tage lang diagnostizierten sie eine Störung des Funkmastes in meinem Postleitzahlenbereich. Aber weshalb hatte ich dann mit dem Handy draußen ein Datennetz in LTE-Stärke? Innerhalb der Wohnung allerdings nur ganz nah am Fenster, rechts in der Ecke.

Die ersten fünf Minuten der Anrufe verbrachte ich in der Entscheidungsbaumabfrage mit der freundlichen Computerstimme, die Fragen kannte ich schnell auswendig: “Nein, ich möchte keine Info per SMS! Ja, ich sagte doch es geht um die Home-Box. HOME-BOX! Ja, du hast es richtig verstanden, es geht um eine technische Frage …

Langsam schälte sich aus dem Befund die Diagnose heraus, dass meine Box hinüber war. SIM-Karte okay, alle Funkmasten im Postleitzahlenbereich 59379 funken einwandfrei. Drei Mal alles an- und ausgeschaltet, vier Mal das Diagnoseverfahren der Service-App durchgespielt. Alles was fehlte, war dieses blaue Lämpchen an der Box, das besagen würde „Juhu, ich habe das Internet gefunden!“

Tag vier, Nachmittag, Elektronikfachmarkt. Ich erstand einen neuen 4G LTE Mobile-WiFi-Router. Eingestöpselt,  Internet da. Ein Schnellscan der Nachrichten ergab: Keine Atombomben in Kasachstan oder Kirgisistan, auch nicht in Hamburg. Und in Selm ist auch kein Trecker gegen ein Straßenschild gefahren.

Oliver Hübner - Autor, Blogger und Webgestalter aus Selm und Schwerin, geb. 1968 in Unna

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