Selmer Alltagsspuren: Zweierlei Frieden für die Welt

Selmer Alltagsspuren: Zweierlei Frieden für die Welt

Frieden. Ja, Frieden. Frieden ist wichtig. Frieden ist mit das wichtigste auf der Welt. Vielleicht gleich nach Sauerstoff und proteinreicher Nahrung. Im Frieden gedeiht alles, im Frieden atmet sich der Sauerstoff schöner, im Frieden sprießt das Korn, das Proteine spendet für gesunde Nahrung. Im Frieden wächst der Geist. Er gedeiht und bekommt Kraft und Energie für Ideen, Kreatives, Positives. Im Frieden kann Miteinander wachsen, Harmonie, Verständnis, Dialog, Solidarität.
Doch seit einem Jahr ist alles anders. Krieg war früher für uns in Mitteleuropa fern und abstrakt. Seit einem Jahr tobt er gefühlt in unserer Nachbarschaft.

Ein wichtiges Zeichen haben viele Menschen in Selm zum Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine gesetzt. Auch mir war es ein großes Bedürfnis dabei zu sein, in der Friedenskirche, als die christlichen Kirchengemeinden und die Stadt Selm zur Mahnwache für den Frieden aufgerufen hatten. Selbst, wenn das Zeichen die Menschen in Kiew oder dem Donbass nicht erreicht, für uns hier, für mich, war es wichtig. Ich bin nicht tatenlos. Wir tun etwas. Wir zünden Kerzen an, wir singen gemeinsam, schreiben unsere Wünsche auf und hängen sie an Plakate an der Kirchenwand, diejenigen, die möchten, beteten zu ihrem Gott. Wir stehen gemeinsam für eine Sache ein. Für den Frieden.

Doch wie gemeinsam standen wir, als wir Hand in Hand ein großes Rund in der Friedenskirche bildeten und dabei, teils andächtig, teils kämpferisch „Shalom alechem“ sangen?

Zwei Tage später zogen 13.000 Menschen, manche sagen es waren 50.000, durch Berlin, die sich als neue Friedensbewegung sehen. Die Forderung: Wir (Deutschland, die deutsche Regierung) dürften keine Waffen an die angegriffene Ukraine liefern. Denn Waffen schaffen niemals Frieden. Stattdessen sollen wir (Deutschland, die deutsche Regierung) sich bemühen, dass die beiden Konfliktparteien zu Friedensgesprächen zusammen kommen. So forderte man dort. Einerseits haben sie Recht: Waffenlieferungen schaffen keinen Frieden. Doch keine Waffenlieferungen genauso wenig!

Da haben wir das Dilemma. Ja. Ich bin für Frieden. Aber ja, ich bin auch dafür, einem Land, das von einem stärkeren Nachbarn unter fadenscheinigen Anschuldigungen (vom Faschismus befreien) angegriffen wurde, zu helfen, sich gegen dieses Land zu verteidigen. Und, da das stärkere Nachbarland mit Waffen kommt, braucht das angegriffene Land ebenfalls Waffen. Sonst kann es sich nicht verteidigen, sonst gibt es am zweiten Jahrestag des russischen Angriffs keinen Krieg, aber auch keine Ukraine mehr.

Friedensverhandlungen finde ich übrigens auch sehr wünschenswert. Ich würde es sehr begrüßen, wenn wieder ernsthaft über Frieden gesprochen wird. Nur, dass ich nicht glaube, dass Putin an ernsthaften Gesprächen interessiert ist. Sonst könnte er ja die Angriffe ruhen lassen und reden. Aber solange das nicht der Fall ist, ist es sinnvoll, die Ukraine zu unterstützen. Auch deshalb, weil sich dort das zarte Pflänzchen Demokratie und eine liberale Gesellschaft entwickeln. Und weil es dort gelungen ist, sich von einem autokratischen Regime zu befreien. Denn ich möchte ebenfalls lieber in einer Demokratie leben, als in einer Diktatur, in der freie Presse verboten wird, das Wort „Krieg“ per Gesetzt und unter Androhung von Gefängnisstrafe verboten werden kann, in einem Land, in dem reihenweise Journalist*innen und Oppositionelle „verunglücken“ oder auf offener Straße erschossen werden. Vielleicht ist diese Errungenschaft der Ukraine ja eher der Grund, dass Russland keine andere Wahl sieht, als die Ukraine heim ins Zarenreich zu holen? Denn Faschisten konnte ich in Kiew Anfang 2022 nicht ausmachen.

Eine Frage hätte ich noch. an alle, die jetzt „Frieden um jeden Preis“ fordern: Was wäre ein fairer Preis für Frieden? Anerkennung der als russisch erklärten Provinzen? Das höre ich herraus, wenn Alice Schwarzer sagt, auch die Ukraine solle zu Kompromissen bereit sein. Wäre es ein besseres Europa, in dem ein Angriffskrieg von Russland, acht Jahre nach der Annektion der Krim, durch weiteren Gebietsgewinn belohnt wird? Natürlich könnten wir zunächst besser schlafen. Aber auch die Menschen in Luhansk und in Donezk, in Moldau, Estland und Litauen?

Der Vollständigkeit halber: ich habe 1991 in Berlin mit 20.000 Menschen dagegen demonstriert, dass die USA im zweiten Golfkrieg den Irak angreift. An einem kalten Januartag.

Am vergangenen Freitag stand ich mit Menschen aus Selm in der Friedenskirche im Kreis und freute mich über das starke Band, das uns vereinte. Doch konnte ich manchmal nicht umhin zu denken: „Sprechen alle vom gleichen Frieden, wenn wir uns Frieden für Selm und für die Welt wünschen?“

Oliver Hübner - Autor, Blogger und Webgestalter aus Selm und Schwerin, geb. 1968 in Unna

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