Erinnerungskultur – mittendrin und so weit weg – Teil 2

Erinnerungskultur – mittendrin und so weit weg – Teil 2
Volkstrauertag in Selm, 16.11.2025

Mit dem Advent endet die düstere Novemberzeit, die Zeit des Gedenkens und der zunehmenden Dunkelheit. Zwar werden die Tage immer noch kürzer, aber das Dunkel wird mehr und mehr von Lichtern durchbrochen. Die weihnachtliche Straßenbeleuchtung, leuchtende Tannenbäume, Glühwein und Gesang wecken das Bedürfnis nach Gemütlichkeit und ein Gefühl der Vorfreude.

Mit der Wintersonnenwende, dem Fest der Geburt Christi, kommt ein neues Licht, ein Neuanfang des Lebens inmitten dunkler Zeit.

Erinnerungskultur – Ist es Zeit für einen neuen Ansatz?

80 Jahre liegt nun das Kriegsende zurück. Eine sehr lange Zeit. Bald wird es keine Zeitzeugen mehr geben, niemand wird mit den Namen auf den Mahnmalen noch ein Gesicht verbinden. Die im Krieg und nach dem Krieg Geborenen trifft definitiv keine persönliche Schuld. Liegt es da nicht nahe, die Zeit der Herrschaft des Nationalsozialismus, den Krieg sowie den Holocaust als historisches Ereignis einzuordnen?

Die Memo-Studienreihe 2025 der Stiftung EVZ – Erinnerung, Verantwortung, Zukunft (www.stiftung-evz.de) bestätigt, dass sich die Haltung zu diesem Thema verändert hat. Zum ersten Mal votiert eine Mehrheit der Befragten für einen Schlussstrich unter die Nazi-Zeit. Die jüngeren Generationen wissen nachgewiesenermaßen immer weniger über diese Zeit. Immer mehr wird die Beurteilung der Vergangenheit entkoppelt von der gegenwärtigen politischen Einstellung.

Bedeutet das, dass wir aus der Erinnerungsarbeit nichts mehr in die Gegenwart mitbringen? Ist sie dann in ihrer bisherigen Form an ihr Ende gekommen?

Am Mahnmal in Selm, Volkstrauertag 16.11.2025

Begegnung mit der Erinnerung – Ein Besuch am Volkstrauertag

Mit all meinen Fragen bin ich am Volkstrauertag zur Gedenkfeier für die Gestorbenen und Opfer der Weltkriege gegangen. In allen Ortsteilen Selms fanden diese Feiern statt, mit Kranzniederlegungen und Gottesdiensten. Im Ortsteil Selm traf man sich mit Fackeln und Fahnen am Mahnmal gegen den Krieg.

Da stand ich nun zum ersten Mal bei dieser Veranstaltung und dachte über Opfer und Täter nach.

Die eigene Familiengeschichte

Mein Großvater steht auf keinem Mahnmal. Er war in Stalingrad, dann in russischer Kriegsgefangenschaft. Mein Vater hat ihn mit fünf Jahren zum ersten Mal gesehen, als er aus der Gefangenschaft zurückkam. Als Kind habe ich meinen Großvater als sanften, ruhigen Mann wahrgenommen, den ich sehr mochte. Das Einzige, was er aus dem Krieg und der Gefangenschaft erzählte, war, dass sie Tannentriebe gegessen haben. Mehr nicht.

Erst als Erwachsene, lange nach seinem Tod, erfuhr ich, dass er gerne früher in Rente gegangen wäre, weil es ihm so schlecht ging und er sich nicht mehr in der Lage fühlte zu arbeiten. Aber in der Begründung für den Antrag schrieb er, er könne über die Zeit des Krieges und der Gefangenschaft nicht sprechen, nur das: Es sei die Hölle gewesen. Der Rentenantrag wurde abgelehnt.

Mein Vater, im Krieg geboren, spricht auch nicht viel über diese Zeit. Er erinnert sich, dass er bereits als kleines Kind Aufgaben zu bewältigen hatte, die er nicht bewältigen konnte. Über die Tatsache, dass alles zerstört war, es kaum etwas zu essen gab, sein Vater fehlte – kein Wort.

Sicher kann man sagen, dass beide Opfer des Krieges geworden sind. Auch wenn zumindest mein Vater es nicht so formulieren würde.

Volkstrauertag Selm 2025

Das große Schweigen: Opfer, Täter und Tabus

Die Opfer haben über ihre Erfahrungen kaum gesprochen – aber über die Täter sprach man nie. Als hätte es in unserem Dorf keine Täter gegeben. Es ist offensichtlich immer noch eine Bedrohung, nachzufragen oder zu forschen: wer sich Vorteile verschafft hat, bereichert, seine Macht missbraucht. Bis heute ein Tabu.

Trauma, Epigenetik und die späte Erkenntnis

Nun, es hat noch einmal etliche Jahre gedauert, bis ich besser verstanden habe, warum mein Großvater nicht sprechen konnte. Denn erst in diesem Jahrtausend hat die Traumaforschung an Bedeutung gewonnen. Erst so allmählich begannen wir zu begreifen, welche Auswirkungen solche Erfahrungen auf Menschen haben.

Man hat doch tatsächlich lange gedacht, dass schon alles gut sei, wenn ein Mensch das Lager überlebt hatte. Aber dass das Gehirn diese grausamen Erfahrungen gar nicht als Vergangenheit ablegen kann, mussten wir erst lernen. Dass Flashbacks unvermittelt in die schlimmsten Situationen zurückversetzen, dass Sprechen über das Erlebte retraumatisiert und somit Schweigen oft die gesündere Alternative ist, dringt so allmählich in unser Bewusstsein.

Ein Beispiel: Die Generation der Kriegskinder wurde traumatisiert durch die Mangelernährung, durch die Erfahrungen im Luftschutzbunker. Sie haben gelernt, dass Schweigen Überleben bedeutet. Diese Erfahrungen prägten ihr Verständnis vom Leben: Gefühle abzuschneiden, zu schweigen wurde als lebenswichtig gelernt – und prägte in der Folge den Erziehungsstil dieser Generation.

Das ist die eine Seite: gelernte Glaubenssätze, die schädlich sind. Aber inzwischen wissen wir auch von der zweiten Seite: Traumatische Erlebnisse können die Genaktivität verändern – Epigenetik.

Diese Veränderungen werden vererbt. Traumafolgen sind also in Körpern und Psyche der Folgegeneration angekommen – und werden weitergegeben. Sie erhöhen die Anfälligkeit für Stress und psychische Erkrankungen.

Wir können also den Krieg, die Verbrechen und das Leid dieser Zeit nicht ignorieren, wenn wir uns nicht selbst ignorieren wollen.

Am Mahnmal in Selm, Gang zur Andacht, Volkstrauertag 16.11.2025

Wie der Kreislauf gebrochen werden kann

Epigenetik kann über Generationen weitergegeben werden.
Aber der Kreislauf kann durchbrochen werden – durch:

  • Stressreduzierung

  • ein liebevolles Umfeld

  • Gespräche über das, was geschehen ist

  • eine sensible Auseinandersetzung mit den Folgen in der Familie

Eine sehr persönliche Form der Erinnerungskultur.

Dabei kann auch Schuld Thema werden. Nicht um anzuklagen – sondern um zu verstehen. Schuld, Scham und Schweigen bilden eine unheilige Trias, die nachfolgenden Generationen schadet. Ungelöste Themen in Familien werden unbewusst weitergegeben.

Der eigenen Schuld ins Gesicht zu sehen erfordert Mut, der vielen nach dem Krieg nicht möglich war. In der heutigen Zeit kann es bereits helfen, zu recherchieren, was die Vorfahren getan haben. Die Wahrheit finden zu wollen, ist ein Fortschritt.

Auch wenn diese Menschen längst tot sind, kann diese Entdeckung schmerzhaft sein.

Brauchen wir weiterhin Erinnerungskultur?

Die Erinnerungskultur wird hoffentlich noch lange gepflegt. Einen Schlussstrich darunter ziehen zu wollen, erscheint mir zu früh. Im Gegenteil – viele Störungen und Erkrankungen zeigen einen Bedarf an.

Es braucht Kommunikation, Mut zur Offenheit in den Familien, sowie die sensible Wahrnehmung des Einzelnen, was er oder sie von dieser Zeit noch unfreiwillig in sich trägt.


Lesetipp

Bode, Sabine: Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen. Hamburg 2004
Bode, Sabine: Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation. Hamburg 2009
Bode, Sabine: Kriegsspuren: Die deutsche Krankheit German Angst. Hamburg (¹2006) 2016
Reddemann, Luise: Kriegskinder und Kriegsenkel in der Psychotherapie. Folgen der NS-Zeit und des Zweiten Weltkriegs erkennen und bearbeiten – Eine Annäherung. Hamburg 2018

1 Kommentar zu „Erinnerungskultur – mittendrin und so weit weg – Teil 2

  1. Danke für den Beitrag zur Erinnerungskultur. So verstanden könnte Erinnerung heute zur Heilung unserer Generation und der nachfolgenden beitragen.

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