Kolumne: Bezahlkarte für Geflüchtete? – Pro und Kontra

In Selm wird derzeit über die Einführung der landesweiten Bezahlkarte für Geflüchtete beraten, die ab dem 1. Januar 2026 automatisch greifen würde – es sei denn, der Stadtrat spricht sich aktiv dagegen aus. Eine endgültige Entscheidung steht noch aus und wird frühestens Ende 2025 erwartet. Die Parteien diskutieren das Thema bereits kontrovers – in diesem Beitrag stellen wir zwei Positionen von Vertreterinnen und Vertretern örtlicher Wählergemeinschaften gegenüber.
Pro: Weil moderne Verwaltung Verantwortung bedeutet
Von Heiko Buchalik
Kandidat der Wählergemeinschaft Stark für Selm für den Rat der Stadt und das Amt des Bürgermeisters

Gleich vorweg: Die Bezahlkarte ist kein Wundermittel. Sie ersetzt keine Integrationsarbeit und löst nicht alle Herausforderungen des Sozialstaats. Aber sie ist ein sinnvoller Schritt in Richtung moderner und verantwortungsbewusster Verwaltung.
Aus meiner Sicht steht sie für die Bereitschaft, Abläufe zu vereinfachen, Ressourcen gezielt einzusetzen und Digitalisierung nicht nur zu fordern, sondern auch umzusetzen. Deshalb halte ich ihre Einführung für richtig. Es geht bei der Bezahlkarte nicht darum, Menschen unter Generalverdacht zu stellen oder Leistungen einzuschränken. Vielmehr geht es um Struktur, Verlässlichkeit und Transparenz, sowohl für die Verwaltung als auch für die Leistungsberechtigten. Wer sich mit den konkreten Regelungen befasst, wird schnell erkennen, dass es bei dieser Karte in erster Linie um Klarheit und Steuerbarkeit geht.
Die Bezahlkarte soll dort zum Einsatz kommen, wo Menschen Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten. Bislang unterscheiden sich die Umsetzungsformen stark von Kommune zu Kommune. Mal werden Leistungen bar ausgezahlt, mal per Überweisung, mal durch Gutscheine oder Sachleistungen. Dieser Flickenteppich erschwert nicht nur die Arbeit der kommunalen Verwaltung, sondern schafft auch Unsicherheit für die Betroffenen. Mit der landesweiten Bezahlkarte soll ein einheitlicher Standard geschaffen werden. Für die Kommunen bedeutet das eine Entlastung bei der Abwicklung, für die Leistungsberechtigten mehr Klarheit im Alltag. Gleichzeitig werden die Ausgaben nachvollziehbar und zweckgebunden, ohne dass jemandem der Zugang zu lebensnotwendigen Leistungen verwehrt wird.
Chance für Digitalisierung der Verwaltung
Die Einführung der Bezahlkarte ist auch eine große Chance für die Digitalisierung kommunaler Abläufe. Gerade im Bereich der sozialen Leistungen werden viele Prozesse noch manuell bearbeitet. Formulare, Barzahlungen, Rückfragen: All das bindet Zeit und Personal. Eine standardisierte, digitale Lösung kann hier Abhilfe schaffen. Wer heute Digitalisierung fordert, muss auch bereit sein, konkrete Instrumente zu nutzen. Die Bezahlkarte ist ein solches Instrument. Sie macht Vorgänge effizienter, minimiert Fehlerquellen und reduziert den Verwaltungsaufwand. Natürlich ist keine technische Lösung perfekt. Aber sie kann dazu beitragen, die knappen personellen Ressourcen in den Verwaltungen sinnvoller einzusetzen.
Ein häufig geäußerter Kritikpunkt betrifft die Sorge vor Stigmatisierung. Ich halte diese Sorge für ernst zu nehmen, aber nicht für gerechtfertigt. Die Bezahlkarte unterscheidet sich äußerlich nicht von anderen Guthabenkarten. Sie lässt sich im Alltag nutzen, ohne dass Außenstehende wissen, um welche Art von Unterstützung es sich handelt. Die Kommune kann zudem selbst mitentscheiden, ob und in welchem Umfang Bargeldauszahlungen möglich sind. Im Kern geht es nicht um Kontrolle, sondern um Verlässlichkeit. Öffentliche Leistungen sind zweckgebunden. Das gilt für Fördermittel ebenso wie für Sozialleistungen. Die Bezahlkarte schafft die Möglichkeit, diesen Zweck besser abzusichern und gleichzeitig die Würde der Leistungsberechtigten zu achten.
Mißbrauch in Einzelfällen
Auch wenn die große Mehrheit der Leistungsberechtigten korrekt handelt, gibt es immer wieder Einzelfälle von Missbrauch. Diese Fälle schaden nicht nur dem Ansehen des Sozialstaats, sondern auch dem Vertrauen in seine Institutionen. Die Bezahlkarte kann dabei helfen, die Verwendung öffentlicher Mittel nachvollziehbar zu machen. Dadurch lassen sich Missbrauchsrisiken begrenzen, ohne dass ganze Gruppen unter Generalverdacht gestellt werden.
Geringe Anzahl günstig für Test
Wer Vertrauen in das System erhalten will, muss auch zeigen, dass er Verantwortung übernimmt. Die Bezahlkarte kann ein Beitrag dazu sein, dass Leistungen dort ankommen, wo sie gebraucht werden – für Lebensunterhalt, Wohnen, Bildung und Gesundheit. In der Stadt Selm wird oft argumentiert, dass nur wenige Personen betroffen seien. Doch gerade das spricht aus meiner Sicht für die Einführung. Eine geringe Fallzahl erlaubt es, das System in kleinem Rahmen zu testen und Erfahrungen zu sammeln. Probleme lassen sich frühzeitig erkennen und Lösungen gemeinsam entwickeln. So kann die Stadt aktiv gestalten, statt später lediglich zu reagieren. Diese proaktive Herangehensweise entspricht auch der Erwartung vieler Bürgerinnen und Bürger. Sie wünschen sich eine Verwaltung, die vorausschauend handelt und Entwicklungen nicht einfach abwartet. Die Bezahlkarte bietet dafür eine konkrete Möglichkeit.
Sinnvoller Beitrag für verantwortungsbewusste Sozialverwaltung
Ja, die Bezahlkarte ist keine perfekte Lösung, aber ein sinnvoller Beitrag zu einer modernen, digital gestützten und verantwortungsbewussten Sozialverwaltung. Sie schafft Struktur, fördert Effizienz, ermöglicht eine gerechtere Steuerung öffentlicher Mittel und stärkt langfristig das Vertrauen in staatliches Handeln. Dabei muss jede Kommune selbst entscheiden, wie sie den Rahmen ausgestaltet und welche Schwerpunkte sie setzt.
Ich persönlich plädiere für eine sachliche Auseinandersetzung und eine aktive Mitgestaltung dieses Prozesses. Denn wer gestalten möchte, muss auch bereit sein, Entscheidungen zu treffen. Die Bezahlkarte bietet dafür eine konkrete Gelegenheit.
Kontra: Die Bezahlkarte ist ein Instrument der Ungleichbehandlung – nicht der Lösung
Von Jesaja M. Wiegard
SELMagazin-Redakteur und Kandidat der UWG Selm e. V. für die Kommunalwahl

Die Idee einer Bezahlkarte für bestimmte Gruppen von Leistungsberechtigten wird vielfach als Fortschritt gepriesen – als Mittel zur Effizienzsteigerung, zur Transparenz, zur Verwaltungsmodernisierung. Doch wer genauer hinschaut, erkennt schnell:
Die Bezahlkarte ist kein neutrales Verwaltungsinstrument, sondern ein Symbol für strukturelle Ungleichbehandlung.
Sie zielt nicht einmal auf alle Menschen im Leistungsbezug, sondern ausschließlich auf eine spezifische Gruppe: auf Menschen, die Leistungen nach em Asylbewerberleistungsgesetz beziehen. Und genau das ist problematisch. Denn damit werden nicht etwa allgemeine Standards gesetzt, sondern Sonderregelungen eingeführt – und zwar für die wohl am wenigsten politisch einflussreiche Gruppe in unserer Gesellschaft. Während Empfänger von Bürgergeld oder Sozialhilfe weiterhin über reguläre Girokonten verfügen, soll eine kleine Gruppe von Leistungsberechtigten auf eine spezielle Karte verwiesen werden – mit teils eingeschränkten Funktionen, mit möglicher Kontrolle durch die auszahlende Behörde, und mit dem Risiko, im Alltag stigmatisiert zu werden.
Verletzung des Gleicheitsprinzips
Dass es sich hierbei nicht um eine bloße technische Lösung handelt, sondern um eine Form gruppenspezifischer Differenzierung, ist offensichtlich. Wenn die Einführung eines neuen Instruments ausschließlich auf Grundlage des Aufenthaltsstatus oder der Herkunft vorgenommen wird, verletzt das ein grundgesetzliches und grundlegendes Gleichheitsprinzip. Es entsteht der Eindruck, dass man bestimmten Menschen weniger zutraut – oder ihnen weniger zugesteht. Das ist nicht nur integrationspolitisch kontraproduktiv, sondern verletzt auch das Gebot der Gleichbehandlung im Rahmen öffentlicher Verwaltungspraxis.
Hoher Aufwand, wenig Nutzen
Hinzu kommt ein zweiter Punkt: Das oft zitierte Argument der Verwaltungsvereinfachung hält einer näheren Betrachtung kaum stand. Gerade in einer mittelgroßen Stadt wie Selm, in der aktuell etwa ein bis zwei Dutzend Menschen überhaupt von dieser Regelung betroffen wären, entsteht kein rationaler Effektivitätsgewinn. Im Gegenteil: Es wird ein zusätzliches Fachverfahren neben den bereits bestehenden eingeführt. Die städtische Verwaltung muss für jeden Einzelfall prüfen, wie und wofür die Bezahlkarte genutzt werden darf. Die zugehörigen Einschränkungen – etwa in Bezug auf Bargeldverfügbarkeit oder Produktgruppen – müssen konfiguriert, überwacht und regelmäßig angepasst werden.
Diese fragmentierte Steuerung erzeugt keinen schlanken Ablauf, sondern erhöht den Bearbeitungsaufwand. Sie steht zudem im Widerspruch zu dem bereits geltenden Rechtsanspruch auf ein Basiskonto auf Guthabenbasis, den jeder Mensch in der Bundesrepublik Deutschland hat – unabhängig von seiner Herkunft oder seinem Aufenthaltsstatus. Die Einführung der Bezahlkarte bedeutet also keine Digitalisierung oder Vereinfachung, sondern eine künstlich geschaffene Parallelstruktur, die Ressourcen bindet, statt sie freizusetzen.
Wichtigere Digitalisierungsprojekt geraten ins Stocken
Der dritte Aspekt betrifft das Verhältnis von Aufwand und Wirkung. In Selm betrifft die Maßnahme nach aktuellem Stand deutlich unter 20 Personen. Das ist eine überschaubare Gruppe, für deren Verwaltung die Einführung eines neuen digitalen Systems – inklusive Absprachen mit Dienstleistern, Verwaltungs-Backends und personellem Schulungsaufwand – organisiert und finanziert werden muss. Gleichzeitig erleben wir, dass zentrale Digitalisierungsvorhaben für die gesamte Stadtbevölkerung von über 27.000 Menschen ins Stocken geraten – sei es beim digitalen Bürgerservice, bei der digitalen Aktenführung oder bei der digitalen Bildungsinfrastruktur.
Wenn also an einer Stelle ein neues System aufgesetzt wird – und das für eine sehr kleine Zielgruppe –, während gleichzeitig zentrale Services für alle Bürgerinnen und Bürger aus Kostengründen zurückstehen müssen, dann entsteht ein Ungleichgewicht.
Kontrolle statt Nutzen
Es entsteht der Eindruck, dass Digitalisierungsenergie nicht dort eingesetzt wird, wo sie den größten Nutzen für alle entfalten würde, sondern dort, wo Kontrolle im Vordergrund steht.
Diese Schwerpunktsetzung wirft grundsätzliche Fragen auf: Wessen Interessen leiten Digitalisierung in der Verwaltung? Geht es um gleichwertigen Zugang zu modernen Verwaltungsdienstleistungen – oder um die Schaffung von Sonderstrukturen für bestimmte Gruppen?
Eine moderne Verwaltung sollte sich an den Grundsätzen der Fairness, Transparenz und Gleichbehandlung orientieren. Die Einführung einer Bezahlkarte, die nur für bestimmte Menschen gilt, denen gleichzeitig die Fähigkeit zur eigenverantwortlichen Haushaltsführung implizit abgesprochen wird, steht dazu im Widerspruch.
Und sie ist weder ein Fortschritt für die Integration noch ein Gewinn für die Verwaltungsmodernisierung – sondern ein Irrweg, der bestehende Ungleichheiten vertieft, statt sie zu überwinden.
Was genau ist die Bezahlkarte?
Die Gesellschaft für Freiheitsrechte e. V. erklärt auf ihrer Seite, wie die Bezahlkarte funktioniert.
… und das sagt die Landesregierung NRW zur Einführung
Pressemitteilung der Landesregierung NRW vom 07.01.2025 zum Thema Einführung der Bezahlkarte
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