Buchtipp: „Alchemised“ von SenLinYu (Teil I)

Buchtipp: „Alchemised“ von SenLinYu (Teil I)

„Whatever it takes!“ – von Löwen, Lämmern und Alchemisten

In einem knappen Dialog zwischen Meryl Streep und Tom Cruise liegt wohl die Geburtsstunde dieser Floskel der Entschlossenheit: „Whatever it takes!“:

Senator Jasper Irving:
What I can say is that this strategy has patience and determination at its core.
It ensures that it puts our fighting men in spots where they can face,
and fight, and kill the enemy, so that we can then go on about rebuilding that country.
And if it takes ten years, that’s how long we stay,
we do
whatever it takes.
Janine Roth:
Whatever it takes.
Senator Jasper Irving:
Whatever it takes.

Quelle

Damit bringt uns der kriegskritische Film „Von Löwen und Lämmern“ aus dem Jahr 2007 gleich doppelt in die Mitte des ersten realen Romans – auch wenn es Dark Fantasy ist – der Autorin SenLinYu (dey/sie). Dey entwickelt auf über 1020 Seiten ein Meisterwerk zwischen klaustrophobischer Einsamkeit der Protagonistin und detailversessener Breite der Weltentwicklung des dreiteiligen Gesamtwerkes. Überraschend übrigens: Alle drei Teile nicht in drei Büchern, sondern: „All in!“ – alles in einem Band.

Der erste Satz

HELENA WONDERED SOMETIMES IF SHE STILL HAD EYES.

Die endlichen Weiten, die SenLinYun in dieser neuen kriegerisch, dystopischen Welt erschafft, die dey vor den Augen der Lesenden im ständigen Zwielicht necromantischer Kriegsführung sich aufbauen lässt – sind der Protagonistin nicht zugänglich – isoliert, in Stasis, zeitlos. Sie ist aller Sinnesreize beraubt außer – den elektischen Schlägen, die ein Verrotten ihrer Muskeln verhindern sollen. Ausgeschlossen von der Teilhabe an der Gegenwart – aber eben auch, das wird sich rasch zeigen, ausgesperrt aus ihrer eigenen Vergangenheit. Nicht aus allem – Teile ihres Lebens erinnert sie durchaus, zentraler Teil ihres Lebens war die „Alchemie“, von der sie nun hart abgeschnitten ist.

Dey Autor:in nutzt die langsame Rückkehr der Protagonistin erzählerisch für unsere Einweisung als lernende Lesenden in eine Welt, in der die brutale Herrschaft der Unsterblich-sein-Wollenden, der Necromanten und ihrer Geschöpfe, die Welt an sich gerissen hat, siegend in einem grauenvollen Krieg, in dem ein Leben nichts mehr wert war, sondern allein der Sieg derer, die anderen von ihrer Macht abzugeben versprachen – Brosamen der Macht nur, aber immerhin: Macht. Und immer mit dem Versprechen, es gebe da noch mehr.


Mir liegt das Buch als Hardcover (witzigerweise leichter als die Paperbackausgabe, was an dem tollen, dünnen Papier liegt) in englischer Sprache vor … (wer auf den Pfeil klickt, liest mehr…)

– Ullstein kauft seit einiger Zeit Originaltexte zur eigenen Veröffentlichung an, in diesem Fall über den Verlag „Forever“ mit der ISBN 978-3-98978-027-9
– Die deutsche Fassung aus dem gleichen Verlag hat 200 Seiten mehr und ist hoffentlich ordentlich übersetzt [978-3-95818-819-8], es gibt Hörbücher in deutsch und englsich, jeweils auch Paperbacks
– Die Bücher sind durchaus liebevoll-dunkel gestaltet: Farbiger Schnitt der Seiten im Hardcover, ein drehbarer Schutzumschlag, ein Lesebändchen. Anosnten gegen Aupresi Gimmicks wie Postkarten oder eine Signatur.
– Die Filmrechte sollen angeblich bereits bei Legendary liegen – einer durchaus mit einem guten Riecher agierenden Filmproduktion


„Whatever it takes!“

Über die ersten 21 Kapitel hinweg führt SenLinYu uns Lesende tief in die „darker aspects of war and survival“ hinein, die dey in der „Author’s Note“ ankündigt. Die auf das langsame, bruchstückhafte Erwachen ihrer Erinnerung fokussierte Handlung bleibt in Spirefell, einem abgeriegelten Landsitz gefangen, im Landsitz selbst ist Helena, die Protagonistin, ihrem Antagonisten Kaine Ferron ausgeliefert, der ihre Erinnerungen bergen soll. Die Einsamkeit nur unterbrochen durch selten gutartige Besucher – und endend mit dem Durchbruch Ihrer Erinnerung.

Während Helena mit allem, was ihr möglich war, eine Erinnerung versteckt zu haben scheint, drängt Kaine mit allem, was ihm möglich ist, in ihr Bewusstein ein, um diese Erinnerung zu bergen.

In all diesen Kapiteln ist der Sog immens und beachtlich, den die düster-beklemmende Belagerung der massiven Mauern um die Geheimnisse ihrer Erinnerung in ihrer aggressiven Umsetzung als Fortsetzung des draußen vom Feind gewonnenen Krieges verursacht. Nur seltene scheinen hellere Momente von Beziehungsfragmenten auf oder durch, Erinnerungsfragmente machen es nicht einfacher, das zu beschützen, das vergessen sein sollte, um eben dies: geschützt zu sein. Helena und Kaine stehen als personifizierte Pole am Anfang und am Ende des Krieges – sie ohne Erinnerung, wer und was sie wirklich war oder ist – er als Zündfunke für ein anhebendes Massaker, mit dem sich die Sieger Unsterblichkeit erhoffen. Und beide angetrieben: „Whatever it takes!“

Ein große Stärke SenLinYus ist, dass sie ohne jeden Erklärbärenblock auskommt – auch wenn dies einen Teil der TikTok-Lesergemeinde schier in den Wahnsinn zu treiben scheint: Es gibt kein Glossar, keine Karten, keine Textblöcke mit Hintergrundinformationen, keine Erklärungen, die sich die Personen in dieser Welt gegenseitig liefern – eigentlich alles muss der oder die Lesende sich aus den Interaktionen der Handelnden erschließen, muss Stück für Stück die überaus komplexe Welt im eigenen Bewusstsein nachbauen, die sich hier auf den seiten in der AHndlung des Buches entfaltet. Die Vorgänge in Körper und Bewusstsein, zwischen Körpern und Bewusstseinsich abspielen, sind ebenso kleinteilig und präzise beschrieben, dass sie lebendig werden können – und oft furchtbar sind.

Es ist eine dunkle, harte, lebensfeindliche Welt, die alles getan hat, um das Leben unendlich werden zu lassen.

Am Ende des ersten Teils ist Helena wieder, jetzt erneut vor allem in ihrem Körper gefangen – schwanger in einer lebensgefährlichen Schwangerschaft gefangen. Nach dem Krieg, in Gefangenschaft, schwanger durch durch den Feind.

Als in einer Krise der Schwangerschaft die Erinnerung durchbricht – beginnt der Teil II mit einer Rückblende um vier Jahre, mitten hinein in den laufenden Krieg: Helena als Heilerin dicht an der Seite des Anführers ihrer Seite des Krieges – und rasch klar sehend, dass dieser Krieg verloren ist, wenn er so gekämpft wird, wie er gekämpft wird: Ohne Regeln eines „ehrenvollen Krieges“ auf der Seite der Necromancer, mit dem unerschütterlichen Glauben, dass Gute werde stets siegen, auf der Seite, für die Helena heilend in die Schlacht zieht.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*