Interview-Podcast – Hans W. Schumacher, wie singt Selm?

62 Jahre Chorgeschichte und -geschichten aus Selm
Seit über 60 Jahren ist Hans W. Schumacher als Chorleiter in Selm aktiv, ans Aufhören denkt er noch nicht. Er hat den größten Kinderchor Nordrhein-Westfalens geleitet, dem Papst einen Gruß aus dem Bistum Münster entgegengebracht, für die Stiftung „Menschen für Menschen“ Benefizkonzerte auf die Beine gestellt und mit der ganzen Südtribüne im Chor gesungen. Nicht zu vergesen: Auch war er Lehrer an der Realschule in Selm, für die Fächer für Musik und Sport, die schönsten Fächer überhaupt, wie er findet.
Aus seiner beeindruckenden Biografie berichtet Hans W. Schumacher in diesem Interview. In schriftlicher Form ist es gekürzt und geeignet bearbeitet, der O-Ton ist im Podcast zu hören.
Intro: Music by Alexander Nakarada / https://www.creatorchords.com
Interview mit Hans W. Schumacher
aufgenommen in Selm am 18. Juni 2025 von Petra Burkhart und Oliver Hübner
„Ich liebe das Dirigieren“
Hans W. Schumacher über 60 Jahre Chorleiter in Selm
SELMagazin: Herr Schumacher, wann hat bei Ihnen eigentlich alles angefangen mit der Chorarbeit?
Hans W. Schumacher: Also ich war 19, da habe ich als Chorleiter angefangen – vorher war ich schon Organist. Mein erstes Studium war an der bischöflichen Kirchenmusikschule in Münster, da habe ich Orgel und Chorleitung gemacht.
SELMagazin: Und Ihr erster Chor?
Schumacher: Der war in Bork, an der Stephanuskirche. Ich war da fünf Jahre lang Organist, Küster und Chorleiter – alles in Personalunion. Und danach habe ich dann nochmal studiert, Lehramt in Aachen, und bin Musik- und Sportlehrer geworden.
SELMagazin: Sie haben aber auch schon vorher dirigiert?
Schumacher: Ja, mit zwölf, vierzehn vielleicht. Da war ich Sänger im Knabenchor an der Josefskirche. Wir standen da vorne im Talar, und unser Chorleiter musste oben Orgel spielen. Da hat er einfach gesagt: „Schumi, du dirigierst.“ Und dann stand ich da. Das war der Anfang.
Erst hatte ich nur Männerchöre. Und dann kamen immer mehr Frauen und sagten: „Wir wollen auch singen!“ Irgendwann hab ich gesagt: „Ja, okay, ich gründe einen gemischten Chor.“ Das war 1985 – die Liederbrücke. Ich hab nur einen kleinen Artikel in die Zeitung gesetzt: Einladung zur Gründung eines gemischten Chores, in der Gaststätte Wellenkamp, kennen Sie noch? Jetzt ist das die Schnitzelyacht. Jedenfalls: Beim ersten Treffen waren 60 Leute da! Und vor allem viele junge.
Ja, das ging richtig los. Da waren 80 Leute, als wir bei den Proben waren. Und das stieg immer weiter bis 120. Wir haben im Saal geprobt. Da haben sie mir ein Podest gebaut, damit mich alle sehen konnten – das Klavier wurde hochgehoben. Das war schon was.
SELMagazin: Und die Sonnenkinder?
Schumacher: Den Kinderchor habe ich schon 1983 gegründet. Erst an der Schule, dann kamen immer mehr, wollten mitmachen – und so wurde daraus der „Kinderchor Selm“. Dort sangen mal über 200 Kinder. Ich glaube, das war der größte Kinderchor in NRW. Später sind viele zu den Sonetten oder zur Liederbrücke gewechselt.
SELMagazin: Singen Ihre Chöre auswendig?
Schumacher: Nicht alle, nur die Liederbrücke. Die singen alles auswendig, auch wenn da Leute über 80 dabei sind. Dann kann ich dann richtig dirigieren. Ich liebe das Dirigieren. Es muss fließen, zeigen, was kommt – nicht einfach nur runterpinseln. Ich finde, es macht auch einen Unterschied, ob man das zeigt. Ich sag immer: Der Chor muss mich ansehen – und dann klappt das auch.
SELMagazin: Sie haben sicher ein riesiges Repertoire.
Schumacher: Ja. Ich probiere in jedem Jahr acht bis zehn neue Lieder. Ich hab alles geordnet – Weihnachtslieder, geistliche Lieder, weltliche. Hunderte. Bei den Sonetten zum Beispiel, das ist mein Chor mit den jungen Frauen, da kann ich ganz andere Sachen machen. Die sind musikalisch wirklich toll.
SELMagazin: Wie wählen Sie die Lieder aus?
Schumacher: Ich hör mir die an, guck, ob die passen. Bei meiner Frau zum Beispiel auf dem Handy, sie hat ein großes Handy, ich hab nur so ein Tastenhandy – reicht zum Telefonieren, aber Musik hören ist da schlecht. Weihnachten fangen wir immer früh mit der Auswahl und den Proben an. Jetzt schon im Sommer. Und dann geht’s los.
Ich höre mir vieles an, lese auch Noten, probiere aus. Und dann weiß ich: Das passt für diesen Chor.
SELMagazin: Gibt es Wünsche für neue Lieder aus dem Chor?
Schumacher: Wünsche? Nein. Ich bin der Chorleiter! (lacht) Natürlich weiß ich, was ich denen zumuten kann.
Natürlich höre ich, wenn was gar nicht ankommt. Einmal wollte ich „Sag mir, wo die Blumen sind“ machen – das war das einzige Mal, dass ein Lied richtig abgelehnt wurde. Aber grundsätzlich: Ich bestimme das Repertoire. Ich weiß, was geht – und was nicht.
Ich suche Lieder aus, die gut klingen und machbar sind. Es bringt ja nichts, wenn wir was Anspruchsvolles singen, das keiner richtig hinkriegt. Dann lieber was Einfacheres – aber das berührt. Und wenn die Leute aus dem Konzert gehen und strahlen, dann haben wir alles richtig gemacht.
SELMagazin: Sie haben mit Ihren Chören viel erlebt – unter anderem Fahrten nach Rom. Können Sie davon erzählen?
Schumacher: Ja, Rom war natürlich ein Highlight. Wir waren schon in den 80er-Jahren das erste Mal da – mit dem Kinderchor. Und dann immer wieder. Auch jetzt im Oktober war ich nochmal mit einer Gruppe aus vier Chören dort. Wir haben im Petersdom gesungen – das war wirklich etwas ganz Besonderes.
Das braucht aber viel Vorbereitung. Wir hatten ein Programm, wir hatten vor Ort einen großartigen Führer – Raffaele Tassinari –, der ist ein Freund geworden über die Jahre. Der kennt alles in Rom. Wir haben sogar vor dem Papst gesungen, in der Audienzhalle – da passen 10.000 Leute rein. Und einmal kam Johannes Paul II. direkt auf uns zu. Ich habe ihn begrüßt: „Wir sind aus Bistum Münster.“ Selm kennt er ja nicht. Und dann hat er sogar einem Mädchen aus unserem Chor die Hand aufgelegt. Sie wollte eigentlich dem Papst gar nicht begegnen, fand es nicht interessant. Nachher war sie aber total bewegt, war fix und fertig.
SELMagazin: Sie haben auch auf dem Petersplatz gesungen?
Schumacher: Ja. Da wurden wir genannt, sind aufgestanden und haben ein Stück gesungen. Und dann hat Raffaele uns einfach nach vorne geschleust – direkt an den Papststuhl ran. Wir standen da und haben nochmal einen Choral gesungen. Ich habe mich sogar hingekniet, mich bedankt. Das war sehr emotional. Auch jetzt im Oktober wieder: Unser Organist Martin Kopp durfte die Orgel im Petersdom spielen – das ist ein echtes Privileg. Und ein riesiges Erlebnis!
Ehrung für Karlheinz Böhm, Besuche in Rom
SELMagazin: Und dann das genaue Gegenteil – Auftritte im Stadion von Borussia Dortmund!
Schumacher: Ja, da waren wir auch! Dreißig Jahre lang – immer vor dem letzten Heimspiel vor Weihnachten. Erst sind wir ganz klassisch in Chorkleidung aufgetreten – Anzug, Schlips, alles. Dann irgendwann in BVB-Trikots. Und wir hatten sogar ein eigenes Lied: „BVB 09 – wir sind für dich da“. Das haben wir im Studio aufgenommen. Danach immer „Jingle Bells“, und die Südtribüne hat mitgesungen. Die Leute haben ihre Handys angemacht, es war wie ein riesiger Chor. Das war Stimmung! Einmal hat uns die Südtribüne aber ausgepfiffen, ich hatte dem gegnerischen Trainer die Hand gegeben, das war Otto Rehagel.
SELMagazin: Das ist sicher auch für die Kinder ein besonderes Erlebnis.
Schumacher: Natürlich! Wir sind mit zwei Bussen gefahren – 80 Kinder. Erst haben wir gesungen, dann das Spiel geschaut. Das war immer ein echtes Highlight im Jahr.
SELMagazin: Sie haben auch über viele Jahre die Organisation Menschen für Menschen unterstützt und Benefiz-Konzerte veranstaltet. Wie kam es dazu?
Hans W. Schumacher: Das fing 1988 an – bei meinem 25-jährigen Chorleiterjubiläum. Ich wollte ein Konzert für einen guten Zweck machen. Aber eben für etwas, wo das Geld auch wirklich ankommt. Dann bin ich auf Karlheinz Böhm und seine Stiftung Menschen für Menschen gestoßen. Und habe einfach Kontakt aufgenommen.
SELMagazin: Und er ist tatsächlich persönlich nach Selm gekommen?
Schumacher: Ja, er kam wirklich. Wir mussten dann umplanen, weil die Hallen zu klein waren. Am Ende war das Konzert in der Dreifachturnhalle am Campus – 2.000 Leute waren da. Und wir konnten ihm 60.000 Mark übergeben. Das war unglaublich.
Wir haben uns sofort gut verstanden. Er war bei uns zu Hause, hat bei uns übernachtet, mit den Kindern geredet, Fragen beantwortet. Ich habe sogar ein Lied für ihn geschrieben – den Text im Griechenland-Urlaub am Meer. Als wir das Lied auf der Bühne gesungen haben, ist er auf mich zu gerannt und hat mich umarmt. Das war sehr bewegend.
SELMagazin: Und das Engagement ging weiter?
Schumacher: Ja, wir haben einen Arbeitskreis Menschen für Menschen gegründet, der über 30 Jahre aktiv war. Wir haben Benefizkonzerte gemacht, Spendenaktionen, sogar ein Fußballspiel mit Borussia Dortmund organisiert – 6.000 Zuschauer im Selmer Stadion. Da kamen 100.000 Mark zusammen! Am Ende waren es über eine Million Euro, die wir über all die Jahre für die Stiftung gesammelt haben.
SELMagazin: Das ist ein riesiges Engagement neben Ihrem Beruf.
Schumacher: Ja, ich war 37 Jahre Musiklehrer, dazu Sport. Ich hatte in der Woche 17 Klassen. Aber die Chorarbeit war mein Herzstück. Ich hab abends viermal die Woche Chorprobe gehabt. Viel Schlaf war da nicht – aber das war mir egal.
SELMagazin: Hat die Schule davon auch profitiert?
Schumacher: Ja, auf jeden Fall. Ich hab auch in der Schule Spendenaktionen gemacht – Wandertage, Fahrradtouren, bei denen die Kinder vorher Sponsoren gesucht haben. Da hat ein Junge mit nur einem Bein über 1.000 Mark gesammelt – der hat die Leute richtig überzeugt. Und wir haben auch in der Schule Konzerte gemacht, Karlheinz Böhm war sogar mal da. Die Kinder haben dadurch viel gelernt – nicht nur Musik, sondern Verantwortung, Mitgefühl.
SELMagazin: Was ist Ihnen in der Chorarbeit besonders wichtig?
Schumacher: Dass die Musik die Menschen berührt. Wenn ein Kind nach dem Konzert zu mir sagt: „Da vorne hat jemand geweint“, dann sage ich: „Dann haben wir’s richtig gemacht.“ Es geht nicht darum, möglichst schwere Stücke zu singen, sondern so zu singen, dass was rüberkommt.
SELMagazin: Wie hat sich die Chorlandschaft in Selm verändert?
Schumacher: Früher war sie viel vielfältiger. Männerchöre, Sängervereinigung, Quartettverein – alles gab’s. Viele davon sind weg. Ich habe auch den Freiherr-vom-Stein-Chor in Cappenberg gegründet. Geblieben ist noch der Männerchor in Bork – aber auch schon alle in fortgeschritten Alter.
SELMagazin: Woran liegt das, dass es weniger wird?
Schumacher: Viele Gründe. In den Schulen findet kaum noch richtiger Musikunterricht statt. Musiklehrer fehlen oder haben keine Möglichkeiten. Und dann kommt natürlich auch die Zeit dazu – alles ist hektischer, viele haben keine Lust, sich zu binden. Chor bedeutet: regelmäßig kommen, Proben, auswendig lernen. Das passt nicht mehr zu jedem Lebensstil.
SELMagazin: Dabei sagen viele: Ihre Proben seien der schönste Tag in der Woche…
Schumacher: Ja, das höre ich oft. Besonders bei der Liederbrücke – da singen Leute mit über 80 Jahren noch mit, sie kommen mit Rollator, aber voller Begeisterung. Das ist einfach schön. Oder wenn wir anfangen mit: (singt) „It’s me, it’s me, oh Lord!“ – dann geht’s los, dann leuchten die Augen.
SELMagazin: Gibt es aus Ihren Chören auch professionelle Musiker?
Schumacher: Nein, beruflich nicht – einer ist Pianist geworden, eine ist Chorleiterin. Aber viele singen heute noch, sind drangeblieben, zum Teil über Jahrzehnte. Das ist doch das Schönste: Wenn man Wurzeln gelegt hat.
SELMagazin: Sie haben vorhin erzählt, dass Sie vor zehn Jahren schwer krank waren.
Schumacher: Ja, Bauchspeicheldrüsenkrebs. Das ist eine der schlimmsten Diagnosen. Der Arzt hat gesagt: Wenn der Tumor oben gelegen hätte, wär’s das gewesen. Aber so konnte man operieren – zehn Stunden OP in Lünen. Danach war alles weg. Keine Chemo, keine Bestrahlung. Ich hatte zwar Komplikationen, habe 23 Kilo abgenommen – aber ich hab’s geschafft.
Und aus Dankbarkeit habe ich dann zweimal in der Krankenhauskapelle ein Konzert gemacht, zu Weihnachten. Der Chefarzt da, mit allen anderen Schwestern. Das war sehr besonders. Seitdem schicke ich jedes Jahr zum OP-Termin einen Gruß. Ich bin wirklich dankbar.
SELMagazin: Sie haben in diesem Jahr die Freiherr-vom-Stein-Medaille der Stadt Selm bekommen – waren sie auf dem Empfang überrascht?
Schumacher: Nein, ich wusste es diesmal, ja. Aber es ist nicht das Wichtigste für mich. Ich habe so viele Urkunden, Ehrennadeln – 40, 50 Jahre Chor, alles da. Was mir mehr bedeutet, sind die Menschen, die ich erreichen konnte. Die Begeisterung. Wenn Leute strahlen nach einem Konzert – das ist mir wichtiger als jede Medaille.
SELMagazin: Neben der Chorarbeit waren Sie auch 37 Jahre lang Lehrer – mit den Fächern Musik und Sport. Eine schöne Kombination, oder?
Schumacher: Für mich waren das die wichtigsten Fächer überhaupt! Musik und Sport – das bewegt Körper und Seele. Nicht nur Wissen, sondern Gemeinschaft, Gefühl, Bewegung. Ich sage: Die Fächer waren wichtiger, als viele denken.
SELMagazin: Gibt’s etwas, das Sie an Selm besonders schätzen?
Schumacher: Die Menschen. Und die Nähe zur Natur. Wir wohnen wunderbar – abgesehen von dem Glascontainer, der ständig lärmt. (lacht) Früher war ich Fußballer, habe in der höchsten Amateurklasse gespielt – 27 Tore in einer Saison. Der Platz, wo heute der Campus ist, da war unser Stadion. Da habe ich auch mit Borussia Dortmund gespielt – bei einem Benefizspiel.
SELMagazin: Könnten Sie sich ein Leben ohne Chor vorstellen?
Schumacher: Nein. Meine Frau hat mich kürzlich am Strand in Griechenland gefragt – und ich hab gesagt: Nein. Solange es geht, mache ich weiter. Wenn es nicht mehr geht, höre ich auf. Aber solange ich fit bin – und das bin ich – warum nicht?
SELMagazin: Herr Schumacher, ganz herzlichen Dank für dieses Gespräch – und für Ihr Lebenswerk!
Schumacher: Gerne. Ich freue mich, wenn’s noch einige Jahre weitergeht.
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