Selmer Alltagsspuren – Einheitstag: Auf in den Osten!

Selmer Alltagsspuren – Einheitstag: Auf in den Osten!

“Glückwunsch zum BVB-Sieg!”
“Danke, liebe Schwiegermutti, und RB Leipzig hat ja auch wieder klasse gespielt!”

Ist das nun die vollzogene Einheit? Familienzweige im Westen und im Osten, 31 Jahre nachdem die DDR und die Bundesrepublik Deutschland sich vereinigten? Oder ist es eben keine Einheit, da wir 31 Jahre nach 1990 immer noch von “Ost” und “West” sprechen? Manchmal sogar noch von “neuen Bundesländern”, nur: wie neu kann ein Bundesland nach 31 Jahren überhaupt sein?

Spuren der Einheit?

Was bekommen wir in Selm davon mit, dass Deutschland nun von Aachen bis Görlitz reicht, von der Rur bis an die Oder? Vielleicht mal ein Auto mit HRO- oder EF-Kennzeichen, hin und wieder sogar ein Trabbi, der aber mit UN auf dem Nummernschild, vegetarische und fleischliche Waren der Rügenwalder Mühle im Kühlregal, der sächsische Akzent der Marktverkäuferin. Viel mehr Spuren der deutschen Einheit findet man es nicht, im Alltag im tiefen Westen, gut 170 Kilometer von der einstigen deutsch-deutschen Grenze entfernt.

Heute vor 31 Jahren (echt jetzt, so lange ist das schon her?) habe ich den Tag der Deutschen Einheit in Berlin verbracht und der Einheitsfeier vor dem Reichstag beigewohnt. Helmut Kohl hat gesprochen, Willy Brandt, Genscher, von Weizsäcker und Lothar de Maizière. Der Atem der Geschichte war greifbar, in jeder Sekunde.

Auch den Mauerfall 1989 habe ich in Berlin erlebt. Verrückte Zeit, mein erstes Semester. Ich konnte Ost-Berlin erkunden, die ersten Ausflüge ins Brandenburger Umland mit dem Fahrrad untenehmen. Im Frühjahr 1990 teilte ich bereits den Hörsaal mit Kommilitoninnen und Kommilitonen aus Dresden und dem Prenzlauer Berg. Eine neue Welt tat sich auf. Das beschauliche West-Berlin, das ich nur sehr kurz kannte,  war nun mittendrin, Fokus des Weltgeschehens.

Was eint uns, was trennt uns?

Und heute, 31 Jahre nach 1990? Ich sehe mehr, was mich als Westfalen mit Menschen in der Alt- oder Uckermark verbindet, denn was uns trennt. Mir sind die Menschen aus Mecklenburg näher, als die aus Oberbayern, manchmal sogar als die Jecken vom Rhein.

Natürlich ist politisch nicht alles perfekt gelaufen. Die Lausitz fühlt sich abgehängt, nach wie vor ziehen die Menschen von dort nach Berlin oder in den Westen, vor allem junge Frauen. Gelsenkirchen beklagt sich ob heruntergekommener Infrastruktur angesichts glänzend renovierter Innenstädte in Thüringen und Sachsen. Doch ist es fair, hier Ost gegen West auszuspielen? Wurde nicht in beiden Teilen unseres Landes die Infrastruktur vernachlässigt?

1989 war ich von der Vereinigung nicht überzeugt. Ich dachte, die DDR können sich selbst reformieren, vielleicht sogar ein “beseres”, Deutschland werden. Wenn ich mir heute Polen oder die Slowakei ansehe, war das ganz sicher blauäugig.

Das Glück der Einheit

Heute bin ich froh und dankbar, dass Ost und West ein Land geworden sind und sich trotz regionaler Unterschiede in vielem einig sind. Ich habe das Glück zwischen beiden Welten zu pendeln und regelmäßig Zeit in Schwerin, in Mecklenburg zu verbringen. Hier sind sich wegen der Lage, man fühlt sich zur Metropolenregion Hamburg zugehörig, und durch die Funktion als Landeshauptstadt mehr Menschen aus Ost und West näher gekommen, als es in der münsterländischen Provinz möglich ist. In Schwerin sehe ich, dass es funktioniert, auch andere Perspektive einzunehmen.

Das Glück der Familie

Auch bei meiner Schwiegerfamilie in einer sächsischen Kleinstadt fühle ich mich wohl. Ich treffe dort ebenso viele offene und liebenswerte Menschen, wie anderswo. Nein, es laufen in Sachsen keineswegs nur Nazis durchs Dorf. Gut, Stammtischsprüche auf den Familienfeiern, die gibt es, aber die gab es auch 1983 bei Omas Geburtstag in Dortmund. Was ich in Sachsen bemerke ist eine größere und grundsätzlichere Skepsis gegenüber staatlichen Institutionen. Das mag an der Erfahrung der DDR liegen, wo man jede offizielle Nachricht genauestens zu interpretieren hatte, an einem tradierten Narrativ, die da oben machen ja eh, was sie wollen.

Aber meiner Schwiegermutter gratuliere ich, wenn RB Leipzig gewinnt, sie mir dafür für eine BVB-Sieg. Gegenseitiges Verständnis,. das ist wichtig für eine gelingende Einheit.

Hören wir einander zu

Meine Bitte: bereist den Osten! Fahrt nach Erfurt, Rostock, Cottbus, radelt auf dem Oder-Radweg und fahrt im Spreewald mit dem Kahn. Setzt Euch in eine Studentenkneipe in der Leipziger Südstadt oder der Greifswalder Altstadt. Geht auch durch die zweite Reihe der schön renovierten Innenstadte und findet das alte Kino, die Gaststätte, die auch im Osten leer stehen. Auch dort findet sich, leider noch zu oft, Trostlosigkeit neben Prunk.

Das erweitert die Perspektive auf ein vielfältiges Land, in dem wir hoffentlich irgendwann nur noch aus Westfalen, Brandenburg, Schwaben und Sachsen kommen und weniger aus Ost und West.

Heute ist der Feiertag, für mich ein wichtiger Tag, um daran zu erinnern.

Oliver Hübner - Autor, Blogger und Webgestalter aus Selm und Schwerin, geb. 1968 in Unna

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