Selmer Alltagsspuren: Spaziergänge

Selmer Alltagsspuren: Spaziergänge

Wieder mal ein Montag. Wieder mal ein wenig spät für eine Kolumne, die eigentlich den Sonntag bereichern soll. Aber eigentlich: “Follow the Flow!” oder “…the fish!”

Will sagen, die Spaziergänge des Sonntags sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Scheinen auf den Montag auszuwandern.

Irgendwie scheinen die Montage dafür geschaffen, “PROTEST” zu rufen – von den Tagen des Blaumachens (bildlich und wörtlich) bis zu den Montagsdemonstrationen, die das Ende der DDR, der Spaltung Deutschlands begleiten und sichtbar machbar – bis hin zu den Rufen im November 1989: “Wir sein EIN Volk!”

Ziemlich schlechte Montagsideen haben die Idee dann Jahre später missbraucht, um nationalistischen Egoismus auf die Straßen zu tragen, haben Menschen und Motive missbraucht, um Hass und Zerspaltung zu befördern.

 

Bislang bleibt Selm von aktuellen Bemühungen um die Rettung der Demokratie verschont, was nicht bedeutet, dass es nicht genug berechtigten Unmut gibt: Die Gastronomie hat (soweit noch lebendig) ihr Elend aufgezeigt, die Veranstaltungsbranche rote Signale gesendet, Klimabesorgte versammeln ab und an Demonstranten – und die Stadt arbeitet aktive gegen Verschwurbelungen an.

Nicht nur durch erfolgreiche Impfangebote und Testmöglichkeiten – auch durch aufklärende Projekte:

Karikaturen von Guido Kühn

Mit den politisch gemeinten Spaziergängen dieser Tage fällt die Idee des “Spaziergangs” zurück um mehr als ein Jahrhundert, da “Spazierengehen” eine Tätigkeit war, der es vor allem darum ging, sich selbst zu zeigen. Und das mit dem Gedanken, die Zeit sei am Ende, ein “Fin de Siècle” sei nahe, die gegenwärtige Ordnung bösartig und dem Untergang nahe. Allerdings: Das war eine Haltung der herrschenden Klassen angesichts der aufkommenden Veränderungen.

Demokratisch gut ist, dass es dieses Gefühl nun nicht mehr allein elitär gibt.

Demokratisch übel ist, dass die radikale selbstbestimmte Minderheit der Erwachten sich lautstark quer durch alle sozialen Schichtungen zieht  – und nciht weggeht.

Demokratie heißt aber auch, dass die Mehrheit einen Weg finden muss, die Zukunft offen zu halten, ohne sich zugunsten ewig-gestriger zu verbiegen.

Formeln aus dem Arsenal des Sozialdarwinismus und der Nietzscheschen Philosophie gehörten zwischen 1890 und 1914 in den höheren Sphären von Politik und Gesellschaft zur allgemeinen Weltanschauung. Aufgrund ihrer antidemokratischen, elitären und militanten Tendenz eigneten sie sich vorzüglich als ideologische Hilfsmittel, mit denen die unbeugsam rückwärts gewandten Elemente der herrschenden und regierenden Klassen ihren tiefwurzelnden und stets regen Antiliberalismus (…) gleichsam erheben, intellektualisieren konnten

(Adelsmacht und Bürgertum. Die Krise der europäischen Gesellschaft. 1848–1914. Beck, München 1984, Seite 286)

Ein Zitat zur Skizzierung dieser “Endzeithaltung” – die Inhalte sind geblieben, die Träger dieser Haltung sind andere geworden.

Das geht nicht weg, was da spazieren geht. Es ist nur blind gegenüber dem Leben.

 

Geborener Sauerländer, kerngebildet als Theologe, beruflich nun medienarbeitend, erfahren als Bildungswerker und Ressourcenbeschaffer, suchend und fragend, unterwegs seit 1967, zwischen Christentum und Sozialismus nach Gerechtigkeit suchend

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