Wir feiern die Einheit – Zu Besuch in Nordrhein-Westfalen
Drei Tage lang wurde in der vergangenen Woche der Tag der Deutschen Einheit gefeiert. Die Gastgeberin war Schwerin, die kleinste Landeshauptstadt der Republik. Traditionell findet die Feier zum 3. Oktober in dem Bundesland statt, das den Vorsitz im Bundesrat innehat. Mecklenburg-Vorpommern richtete in diesem Jahr nach 1991 und 2006 bereits zum dritten Mal die Einheitsfeier aus. Neben allen Bundesministerien, gesellschaftlichen Institutionen und Vereinen, waren auch alle Bundesländer auf unterschiedlich großen Präsentationsflächen vertreten.
Natürlich habe ich sofort das Nordrhein-Westfalen-Zelt angesteuert, das sich einen Bereich mit Niedersachsen und Hamburg teilte. Zwei Mal in den drei Tagen war ich dort. Zufälligerweise war bei beiden Besuchen ein Bühnenzauberer aus Köln gerade damit beschäftigt, sich sehr, sehr fest fesseln zu lassen, während er auf einem Stuhl sass. Das eine Mal von Angela und Paul aus Bremen, das andere Mal von Inge und Horst aus Pirna. Natürlich schaffte er es, so schnell zu reden, dass niemand bemerkte, wie er sich unter der Wolldecke befreite, die über seinen Beinen lag. Rheinländer halt. Der Westfale in mir dachte sich: „Nun, das wird er schon irgendwie hinbekommen haben, aber googlen, wie er es gemacht hat, muss ich auch wieder nicht.“
Derweilen trank Kerstin aus Rostock mit Holger aus Bielefeld das dritte Kölsch, so war die Einheitsfeier ja gedacht: Menschen kommen ins Gespräch, die sich sonst nicht begegnet wären.
Auf der Einheitsfeier 2006 gab es im Nordrhein-Westfalen-Zelt noch Pils, Kölsch und Altbier. 2024 nur Pils und Kölsch. So wird die regionale Quote dem Sparzwang geopfert, sorry, Düsseldorf! Am Eingang jedoch waren alle gefühlten und föderativen Regionen unseres Bundeslandes vertreten: der Kölner Dom, das Rathaus von Münster, die Zeche Zollverein und das Hermannsdenkmal, das auch das Lipperland mit zu Feier brachte.
Interessant war die Ausstellung von landestypischen Dingen im mobilen Museum, einem Container, den das Haus der Geschichte NRW mit nach Schwerin brachte. Neben Grönemeyers 4630 Bochum auf Vinyl war das Backpulver aus Bielefeld in Papiertütchen und – oh Frevel! – der BVB-Schal gemeinsam mit der Kutte von Schalke 04 in einer Vitrine zu sehen. Der interaktive Part: nimm ein Kärtchen, schreibe drauf, was „Mein Nordrhein-Westfalen“ ausmacht und klammere es an die Klammerwand. Stau, Autobahnen und das Münsterland, so das Bild, das die „Mein NRW“ ergab. Und schon übernahm der Singer-Songwriter auf der Hamburg-Bühne den Fokus. Das Niedersachsen-Zelt war nicht so interessant.
Berlin hatte, der Erwartung entsprechend, das beste Angebot an veganen Speisen, was für mich von Relevanz war. Das Saarland hatte allerdings die vegane Currywurst. Beim sächsischen Dialekt-Ratespiel fielen selbst einige Sachsen durch: „Fischelant soll clever, auf Zack heißen? Nie gehört!“ Die längste Schlange war bei den Thüringer Würstchen.
Doch nicht nur die Bundesländer haben ein interessantes Programm geboten: Beim Bundesrats-Raten durfte ich einen Regenschirm mitnehmen, zur Thermoskanne hat es beim Quiz-Spiel nach Art Dalli-Klick und Dingsda nicht gereicht. Direkt nebenan, beim Bundesverfassungsgericht, berichtete einer der Verfassungsrichter über den Verfassungsauftrag Klimaschutz, für mich ebenfalls ein sehr interessantes Thema.
Das Programm der vier oder fünf Musikbühnen, Roland Kaiser und Keimzeit waren wohl die Highlights, habe ich verschmäht. Für meine Portion gesamtdeutscher Kultur wohnte ich mehreren Lesungen von Ost-West-Biografien bei, für mich eindeutig interessanter, aufgrund meiner eigene Ost-West-Biografie. Spoiler: Schwerin ist mein Haupt-, Selm mein Nebenwohnsitz. Auch deshalb bin ich dankbar für diese Feier, die Menschen aus allen Teilen der Republik zusammenbrachte, so unterschiedlich sie oder ihre Interessen auch sein mögen.
Zugegeben, in anderen Jahren habe ich die Deutsche Einheit positiver gesehen als 2024. In diesem Jahr scheint die Einheit unseres Landes wieder ins Stocken geraten zu sein, Stichwort AfD und BSW, 40+ Prozent für Nazis und Populismus bei Landtagswahlen in Ostdeutschland. Doch ich habe auch, vor allem durch die Lesungen von Geschichten über Flucht, Willkür und Drangsalierung abweichender Lebensentwürfe in der DDR, meine Dankbarkeit für die Vereinigung unseres Landes wiederentdeckt. Es müssten einerseits die Errungenschaften stärker in den Fokus gerückt werden, andererseits wünsche ich mir, dass wir weiter am Dialog zwischen Ost und West arbeiten, in allen Teilen der unserer Republik.
Vor allem die Stimme des Ostens findet, so nehme ich es wahr, wenig Beachtung. „Wir“ im Westen“, wenn ich mal als Westfale spreche, haben die Vereinigung als einen mehr oder weniger normalen Prozess erleben dürfen, der unser Leben in gewissen Punkten verändert, aber nicht grundsätzlich umstülpt. Anders für die Menschen, die in der DDR aufgewachsen sind. Für sie gab es ihr Land von einem auf den anderen Tag nicht mehr. Lebensentwürfe wurden umgeschrieben, umdefiniert. Diese Anpassungsleistung wurde und wird zu wenig gewürdigt. Einerseits finanziell, andererseits auch ideell. Welche wertvollen Erfahrungen bringen 16 Millionen DDR-Bürger*innen mit in ein gemeinsames Land? Wen im Westen hat das in den 1990er-Jahren wirklich interessiert? Wen interessiert das heute? Ich kann natürlich sagen: mich! Aber reicht das? Für mich ist der Austausch zwischen Ost und West ein essentiell wichtiges Unterfangen, auch 35 Jahre nach dem Mauerfall, 34 Jahre nach der Vereinigung zweier sehr unterschiedlicher Teile des heutigen Deutschlands. Möglicherweise aufgrund meiner eigenen Ost-West-Biografie.
Doch die Einheitsfeier 2024 wollte ich lieber ohne Rumgrübeln auskosten. Zum Glas Wein bin ich dann nochmal ins Saarland, das auf diesem Fest flächenmäßig etwa so groß war wie NRW. Dort wurde auch die beste Musik geboten, so eine chillig-groovige Lounge-Beat-Combo, perfekt zum Ausklang einer dreitägigen Feier. Das Saarland hat, angesichts seiner tatsächlichen Größe, sich Extra-Mühe bei seiner Präsentation gegeben. Zurecht, denn es hat von Mecklenburg-Vorpommern am 3. Oktober 2024 den Staffelstab übernommen und den Auftrag, die Einheitsfeier 2025 auszurichten. Es möge gut gelingen!
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